Home | Banklexikon | Finanzlexikon | Wirtschaftslexikon | Überblick
Banklexikon
Ausgabe 2014
Suche :        
   A   B   C   D   E   F   G   H   I   J   K   L   M   N   O   P   Q   R   S   T   U   V   W   X   Y   Z   

Börsen- und Börsenrechtsreform

1.  Definitionen Börsenreform. Der Begriff bezeichnet schlagwortartig die organisatorische Bewältigung des tiefgreifenden strukurellen Wandels (2.1) an den internationalen Kapitalmärkten, mit dem sich die traditionellen Börsen seit Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts konfrontiert sehen. Börsenrechtsreform. Der Begriff umschreibt die für den Beginn des neuen Jahrhunderts zu erwartende regulatorische Antwort auf diesen Wandel. In der Sache geht es um die Weiterentwicklung des veralteten deutschen Börsengesetzes (2.3) von einem Polizei- zu einem modernen Marktgesetz, das lediglich die Grundprinzipien des Börsenhandels festschreibt und im übrigen Raum lässt für den Wettbewerb von Systemen, Produkten und Anbietern um Emittenten und Investoren. 2.  Merkmale 2.1  Struktureller Wandel bei Börsendienstleistungen Die weitreichenden strukturellen Veränderungen im Bereich der Börsendienstleistungen lassen sich maßgeblich auf folgende Ursachen zurückführen: Die rasch wachsende Institutionalisierung der Märkte und Marktteilnehmer (Konzentration der Geldvermögensanlagen bei institutionellen Anlegern in Form intermediatisierter und diversifizierter Anlagen wie etwa Investment- oder Pensionsfonds) bewirkt eine Professionalisierung des Anlageverhaltens und eine Sensibilisierung für die Transaktionskosten des Wertpapierhandels. Die Institutionalisierung verbindet sich mit einer immer stärkeren Globalisierung der Mittelanlage und Mittelaufnahme; institutionelle Investoren, die ein optimales Niveau an Risikodiversifikation und Chancenausnutzung realisieren wollen, müssen global investieren. Dieser Trend wird durch den wachsenden Einsatz neuer und immer leistungsfähigerer Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglicht. Durch die Globalisierung und Enträumlichung von Marktbeziehungen mit Hilfe der Informationstechnologie werden ehemalige Standortvorteile entwertet. Die in beinahe allen Industriestaaten zu beobachtende Deregulierung des Börsenrechts (3.2) erleichtert die Möglichkeit der Marktteilnehmer, auf kostengünstigere Märkte auszuweichen zusätzlich. An den Börsenplätzen der Europäischen Union sorgt zudem der mit der Umsetzung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts in innerstaatliches Recht verbundene Abbau der Marktzutrittsschranken für ausländische Finanzdienstleister für einen zusätzlichen Wettbewerbsdruck. Die Einführung der Europäischen Währungsunion hat den europäischen Börsenwettbewerb noch weiter verschärft. Die Technologisierung des Handels hat schließlich zu einer zunehmenden Desintermediation und damit zu einem wachsenden Substitutionswettbewerb für die etablierten Börsen durch intermediationsfreie alternative Handelssysteme (Alternative Trading Systems, ATS; Proprietary Trading Systems, PTS; Electronic Communication Networks, ECN), sogenannte börsenähnliche Einrichtungen (4.1) geführt, die anlegerspezifisch geschnittene Börsenleistungen für institutionelle Anleger anbieten, bis hin zur Virtualisierung des Wertpapierhandels im Internet, das auch Privatanlegem einen unmittelbaren Zugang zu Handelsplattformen gibt. Infolge dieser Entwicklungen verlieren die etablierten Börsen ihre Rolle als natürliche Zentren regionaler oder nationaler Kapitalmärkte und agieren vermehrt nur noch als eine von verschiedenen Handelsplattformen, die in Konkurrenz zu anderen Marktbetrieben für den Wertpapierhandel stehen. 1.1  Reformdruck Auch die deutschen Börsen müssen sich dem gewachsenen Wettbewerbsdruck stellen. Um in diesem Wettbewerb nach wie vor qualifizierte Börsenleistungen zu kompetitiven Preisen anbieten zu können, ist eine Transformation von vormals quasi-hoheitlichen Betrieben zu marktorientierten Dienstleistem unerläßlich. Die organisatorische Bewältigung der geschilderten Innovationsdynamik ist für die Börsen zur Überlebensfrage geworden und ist darüber hinaus von erheblichem volkswirtschaftlichen Interesse. Unterbleibt die erforderliche Reorganisation der Börsenlandschaft, verschlechtert sich die Wettbewerbsfähigkeit des nationalen Kapitalmarktes mit negativen Konsequenzen für die gesamte Wirtschaft, da sich für die inländischen Unternehmen im Verhältnis zur internationalen Konkurrenz die Kapitalkosten erhöhen. Ein leistungsfähiges Finanzdienstleistungssystem ist zentrale Voraussetzung für gesamtwirtschaftliches Wachstum. Den Börsen als tragenden Institutionen der Sekundärmärkte kommt dabei eine wichtige Rolle bei der Eigenkapitalbeschaffung der Unternehmen zu. Nur effiziente, also stabile aber zugleich flexibel und transaktionskostengünstig operierende Sekundärmärkte für Aktien vermögen die notwendige Zunahme der direkten Finanzierung zu fördern, und so insbesondere auch jungen Unternehmen die Aufnahme von Risikokapital zu erleichtern. 1.2  Regulierungswettbewerb und Novellierung des Börsengesetzes Die effiziente Organisation des Marktes für Börsendienstleistungen hängt entscheidend von der Qualität der jeweiligen Regulierung ab, denn der intensivierte Standortwettbewerb unter den Börsen ist wesentlich auch ein Wettbewerb der verschiedenen Regulierungsmodelle. Technologisierung und Professionalisierung des Handels führen zu verbesserten Möglichkeiten der Regulierungsarbitrage. Die Folge ist ein verstärkter Regulierungswettbewerb zwischen den nationalen Kapitalmärkten, dem der Gesetzgeber durch Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen Rechnung tragen muss. Für den heimischen Kapitalmarkt ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Überarbeitung des vor einhundert Jahren konzipierten deutschen Börsengesetzes (BörsG) vom 22.6.1896 in der Fassung der Bekanntmachung vom 9.9.1998. Auch wenn das Gesetz in der Vergangenheit verschiedene Teilreformen erfahren hat, ist es in seiner geltenden Fassung gleichwohl in zentralen Teilen als veraltet anzusehen. 2.  Reformziele 2.1  Drei Oberziele Wie stets bei der Regelung von Märkten sind auch für den Markt für Börsendienstleistungen drei Oberziele zu gewährleisten: (1) Aufrechterhaltung oder gegebenenfalls Schaffung von Wettbewerb durch Kontrolle von monopolistischer Marktmacht, (2) Korrektur von Marktversagen infolge von Extemalitäten sowie (3) Verhinderung der Ausnutzung schlechter informierter Marktteilnehmer aufgrund von Informationsasymmetrien. Die Gefahr von Extemalitäten besteht beim Börsengeschäft vor allem hinsichtlich der Stabilität des Systems, mithin der Börsen und ihrer Betreiber. Insoweit geht es um den Funktionenschutz des Marktes. Der Ausgleich von systembedingten Informationsasymmetrien ist unter dem Begriff des Anlegerschutzes zu subsumieren. Auch im Bereich der Börsendienstleistungen sollten Anleger- und Funktionenschutz soweit als möglich durch die Förderung des Wettbewerbs gewährleistet und entsprechend Raum für den Wettbewerb von Systemen, Produkten und Anbietern gelassen werden. Im übrigen sind beide Schutzziele durch eine den Beteiligten aufgegebene, staatlich überwachte Selbstregulierung und schließlich durch die Festschreibung von Mindeststandards hinsichtlich der Organisation der Börsendienstleister, der Preisfeststellung und der Handelsdurchführung im Gesetz zu verwirklichen. Während die verschiedenen Formen des Börsenwettbewerbs bei den institutioneilen Anlegern aufgrund der jederzeitigen Abwanderungsmöglichkeit einen ausreichenden Schutz garantieren, steht den Privatanlegem, die auch im übrigen weniger imstande sind, sich selbst zu schützen, diese Möglichkeit nur eingeschränkt offen; hier ist für einen zusätzlichen, regulatorischen Schutz zu sorgen. 2.2  Wettbewerb vs. Liquiditätsbündelung Grundsätzlich steht die Bedeutung des Börsenwettbewerbs in seiner mehrfachen Schichtung — Zugangswettbewerb, Preisfeststellungswettbewerb, Interbörsenwettbewerb — für eine effiziente Bereitstellung von Börsendienstleistungen außer Frage. Ein funktionsfähiger Wettbewerb im inländischen Markt ist zugleich unabdingbare Voraussetzung für die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Finanz- und Börsenplatzes Deutschland. Insoweit gilt im Bereich der Börsendienstleistungen dasselbe wie in anderen Dienstleistungsmärkten. Von daher ist die oft zu hörende Auffassung abzulehnen, dass im Interesse der Konzentration von Liquidität der Börsenwettbewerb zu beschränken ist. Diese ergibt sich meist schon als Folge des Wettbewerbs, wie die Konzentration auf große Börsenplätze zeigt. Ein Blick auf die internationalen Börsenplätze zeigt vielmehr, dass umgekehrt die Gefahr einer Oligopolisierung des Wertpapierhandels und bestimmter Handelssysteme wie auch der Monopolisierung von Handels-, Informations- und Abwicklungsystemen besteht. Mit dem Argument einer angeblich erforderlichen Liquiditätsbündelung wird versucht, unliebsame Konkurrenz vom Markt femzuhalten und so den Wettbewerb auszuhebeln. Der Versuch, durch Marktzutrittsschranken den inländischen Wettbewerb gegen ausländische Anbieter von Börsendienstleistungen abzuschirmen, wäre jedoch kontraproduktiv und innerhalb der Europäischen Union sogar als Verstoß gegen die Marktfreiheiten sowie im besonderen gegen die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie rechtswidrig. Konzentrations- fördemde Maßnahmen sind auch ohne gesetzliche Beschränkung des Börsenwettbewerbs möglich.Allerdings ist es umgekehrt aber auch kein Anliegen des Börsenrechts, eine sich im Wettbewerb vollziehende Konzentration von Angebot und Nachfrage auf einen zentralen Börsenplatz verhindern zu wollen. Soweit dabei Wettbewerbsverstöße stattfinden, sind die Kartellbehörden auf den Plan gerufen. Unter keinen Umständen haben Kartell- oder Börsenrecht die Aufgabe, Strukturen, die sich am offenen Markt nicht durchsetzen können, zu erhalten. Jegliche Sonderbehandlung der Börsen im Kartellrecht ist abzulehnen. 2.3  Innovationsoffenes Regulierungs-regime Für die Organisation von Börse, Handel und Preisfeststellung hat sich bisher international kein einheitliches System durchgesetzt. Die Entwicklung ist nach wie vor im Fluß. Hybride Marktmodelle sind im Vordringen und die vielfältigen technischen Möglichkeiten erlauben vermehrt Differenzierungen der Börsendienst-leistungen durch die einzelnen Anbieter. Entsprechend ist es für den Gesetzgeber derzeit auch nicht erkennbar, in welcher Weise die Börse mit all ihren institutioneilen Facetten optimal geordnet werden sollte. Das heißt zugleich, dass eine gesetzliche Regelung des Börsenwesens soweit als möglich für regulatorische Offenheit zu sorgen hat und die Entwicklung neuer Produkte und Techniken nicht behindern darf. Ziel muss vielmehr sein, den Börsen und anderen Handelsplattformen zu ermöglichen, eine auch im Zeitablauf marktgerechte Produkt- und Dienstleistungspalette anzubieten, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Investorengruppen differenziert entsprechend deren Nachfragepräferenzen nach Börsenleistungen reagieren und so der Innovationsdynamik auf den internationalen Finanzplätzen Rechnung tragen zu können. 2.4  Selbstregulierung Die Tatsache, dass viele mit der Gestaltung einer effizienten Börsenorganisation verbundene Fragen nach wie vor offen sind, spricht gegen eine breite Normsetzung durch den Gesetzgeber, fehlt es doch an einer sicheren Beurteilungsbasis für Vor- und Nachteile einzelner Regulierungen. Ferner lässt der rasche Wandel der technischen Entwicklung eine gesetzliche Regulierung, die sich naturgemäß nicht zeitnah an die Veränderungen anpassen lässt, unweigerlich zu einem Standortnachteil für den Börsenplatz werden. Deshalb ist einer weitreichenden Selbstregulierung durch die Marktteilnehmer der Vorrang zu geben. Eine Selbstregulierung zeichnet sich durch Sachnähe und Flexibilität aus, da die unmittelbar am Börsengeschehen Beteiligten vermittels ihrer Erfahrung den für den komplexen Bereich der Finanzmarktgestaltung erforderlichen Sachverstand am ehesten selber aufbringen können. 3.  Reformbereiche 3.1  Börsen und börsenähnliche Einrichtungen Der herkömmliche Regelungsansatz im BörsG unterscheidet strikt zwischen Börse und Nicht- Börse. Das erklärt sich unter anderem aus dem Genehmigungserfordernis für die Errichtung einer Börse unter dem traditionellen Konzessionssystem. Der modernen Entwicklung entspricht dieses Entweder-Oder nicht mehr, da sich inzwischen zahlreiche alternative Handelssysteme (2.1) herausgebildet haben, die als Mischformen eine exakte Grenzziehung zwischen Börsen und Nicht-Börsen nicht länger erlauben. Diese erfüllen als börsenähnliche Einrichtungen wichtige Aufgaben und sollten vom Börsengesetzgeber nicht länger ignoriert werden. Ein funktionaler Regelungsansatz nimmt die Börsendienstleistungen als Ausgangspunkt. Dies sind besonders qualifizierte Wertpapierdienstleistungen, die von Börsen, börsenähnlichen Einrichtungen und Wertpapierfirmen erbracht werden, und je nach ihrer Ausgestaltung unterschiedlichen Regelungen zu unterwerfen sind. Auch wenn es bislang noch keinen festen Begriff der börsenähnlichen Einrichtung gibt, lassen sich hierunter jedoch vor allem solche alternativen Handelssysteme subsumieren, die ein Orderrouting und/oder die Verbreitung von Preisinformationen bezwecken, in denen also lediglich Angebote nachgewiesen, aber keine Abschlüsse getätigt werden. Soweit innerhalb eines solchen Systems auch Abschlüsse getätigt werden, muss dies gleichwohl nicht notwendig als Börse zu qualifizieren sein, sondern kann jedenfalls dann als nur börsenähnlich eingestuft werden, wenn es ausschließlich institutioneilen Anlegern als professionellen Handelsteilnehmern offensteht. Um flexibel auf neue Entwicklungen reagieren zu können, empfiehlt es sich, unter Verzicht auf eine Legaldefiniton die Börsenaufsichtsbehörde zu einer Definition der börsenähnlichen Einrichtung in einer Verordnung zu ermächtigen, die sich leichter anpassen lässt als ein Gesetz. Die Unterstellung börsenähnlicher Einrichtungen unter das BörsG erfolgt durch die Aufsichtsbehörde, wenn und soweit der Gesetzeszweck dies erforderlich macht, was entsprechend dem Grad der funktionalen Annäherung an eine Börse ganz oder teilweise geschehen kann. Umgekehrt können alternative Handelssysteme jedoch auch auf Antrag hin als börsenähnliche Einrichtung anerkannt werden, wenn sie dies aus Gründen einer gesteigerten Reputation wünschen und hinreichenden Qualifikationserfordernissen entsprechen ("Gütesiegel-Effekt"). Damit ergibt sich ein dreifach gestaffeltes System: Auf der obersten Stufe stehen die Börsen, an die gesetzgeberisch die größten Anforderungen im Hinblick auf den Anleger- und Funktionen schütz gestellt werden. Für diese gilt das BörsG uneingeschränkt. Auf der untersten Stufe stehen die Wertpapierfirmen, die EU-einheitlich nach den Mindestvorgaben der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie vom 10.5.1993 (Abi EG Nr. L 141/27 vom 11.6.1993) geregelt werden, die für das deutsche Recht durch das Gesetz über den Wertpapierhandel (Wertpapierhandelsgesetz — WpHG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 9.9.1998 (BGBl I 2708) umgesetzt sind. Für die börsenähnlichen Einrichtungen ergibt sich eine dritte, dazwischen liegende Stufe, wie sie im deutschen Recht bisher nicht vorgesehen ist. Nach Maßgabe des Gesetzeszweckes können diese dem BörsG ganz oder teilweise unterstellt werden. Geschieht keine Unterstellung, gelten die Regeln des WpHG entweder unmittelbar, falls die Handelssysteme von Wertpapierfirmen betrieben werden, oder mittelbar über die in ihnen als Handelsteilnehmer aktiven Wertpapierfirmen. Angesichts der unterschiedlichen Phänomene, die mit dem Begriff börsenähnliche Einrichtungen erfasst werden, sollte das BörsG auf detaillierte inhaltliche Vorgaben über die Regulierung börsenähnlicher Einrichtungen verzichten. Zwei grundsätzliche Aussagen sollte das Gesetz jedoch enthalten: eine Verpflichtung der Börsenaufsicht, für eine gewisse Mindestregulierung hinsichtlich der Preisqualität Sorge zu tragen, ferner eine Hinweispflicht darauf, dass die Preisfeststellung außerhalb der Börse erfolgt, da dies möglicherweise zu einer schlechteren Preisqualität führt. Gewählt ist damit das Informationsmodell, das jedenfalls teilweise an die Stelle einer Sachregulierung tritt. 3.2  Organisationsrahmen der Börse Die ganz überwiegende Meinung qualifiziert die Börsen unter dem deutschen BörsG als öffentlich-rechtlich, und zwar als unselbständige Anstalten des öffentlichen Rechts, obwohl eine öffentlich-rechtliche Natur der Börsen im BörsG selbst nicht festgeschrieben ist. Ein Blick in andere Länder zeigt, dass dort die Börsen hingegen in aller Regel privatrechtliche Unternehmen sind, die lediglich einer staatlichen Genehmigung bedürfen. Schwierigkeiten, die gerade aus dem privatrechtlichen Charakter der Börsen resultieren, sind in diesen Ländern nicht festzustellen. Angesichts dieses eindeutigen rechtsvergleichenden Befunds drängt sich die Einschätzung auf, dass die deutsche öffentlich-rechtliche Struktur der Börsen im internationalen Vergleich eine nur historisch zu erklärende Besonderheit darstellt, die sachlich nicht zwingend geboten ist. Rechtspolitisch sprechen vielmehr verschiedene Gründe für eine privatrechtliche Börsenorganisation. Das wichtigste Anliegen ist es, den Börsen im internationalen und im Systemwettbewerb die Möglichkeit zu geben, sich von hoheitlichen oder quasi-hoheitlichen Betrieben zu marktorientierten Dienstleistem entwickeln zu können. Neu entstehende Börsen sollten deshalb von vornherein die ihnen angemessene Rechtsform wählen können. Das wird in der Regel die Aktiengesellschaft sein. Am deutlichsten wird der Unterschied zwischen der öffentlich-rechtlichen und der privatrechtlichen Sichtweise bei der Frage, ob die Gründung einer neuen Börse einer Bedürfnisprüfung bedarf. Aus öffentlich-rechtlicher Perspektive liegt die Genehmigung der Errichtung einer Börse als Entscheidung über die Errichtung einer öffentlichen Anstalt in der Organisationsgewalt der jeweiligen Börsenaufsichtsbehörde. Dies ist gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 BörsG die zuständige oberste Landesbehörde des Bundeslandes, in dem die Börse ihren Sitz hat. Da es danach um die Erfüllung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung geht, hat der Börsenträger keinen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung. Dem steht die moderne, ökonomisch, rechtsvergleichend und rechtspolitisch begründete These entgegen, dass die Gründung einer Börse eine rein unternehmerische Entscheidung ist und auch rechtlich als solche behandelt werden muss: Nicht die Aufsichtsbehörde, sondern der Markt entscheidet, ob ein Bedürfnis für die angebotenen Börsendienstleistungen besteht oder nicht. Lässt man künftig Neugründungen in Form privatrechtlicher Börsen zu, sollte den derzeit bestehenden öffentlich-rechtlichen Börsen ein Wahlrecht gegeben werden, sich in privatrechtliche umzuwandeln, wenn sie das wegen des Wettbewerbs, im Interesse größerer Flexibilität oder aus sonstigen Gründen am Markt für sinnvoll halten. 3.3  Liberalisierung von Zulassung, Handelsart und Preisfeststellung Die gegenwärtig (noch) im Börsengesetz vorgeschriebene feste Verknüpfung der Zulassung der Wertpapiere in einem Marktsegment mit den für dieses Segment geltenden Preisfeststellungsregeln sollte im Zuge einer Deregulierung des deutschen Börsenrechts aufgelöst werden. Eine solche Verknüpfung entspricht nicht länger den Marktbedürfnissen und ist auch international nicht üblich. Die Trennung von Kursfeststellungs- und Zulassungsbedingungen sollte in das Ermessen der Börsen gestellt und diesen künftig die Wahl der Handelsarten für neu geschaffene Segmente freigestellt werden. Wegen der Bedeutung dieser Wahl für die Handelsteilnehmer bedürfte selbige allerdings einer Genehmigung durch die Börsenaufsichtsbehörde. Wenn die Festlegung der Handelsart für die jeweiligen Handelssegmente als notwendiger Bestandteil der Börsenordnung vorgeschrieben würde, wäre zugleich sichergestellt, dass der Börsenrat, in dem alle beteiligten Kreise vertreten sind, die Entscheidung trifft. Welche Kriterien der Börsenrat dabei zugrunde legt, ist seine Sache und sollte gesetzlich nicht vorgeschrieben werden. Eine solche Liberalisierung hätte für die Kursmakler, denen nach §§ 29 ff. BörsG bislang die Feststellung des amtlichen Börsenkurses Vorbehalten ist, elementare Auswirkungen, weil auf diese Weise das geltende gesetzlich aufrechterhaltene Monopol ihres Berufsstands den Anforderungen des Wettbewerbs weichen müßte. Daran ändert auch nichts, dass es den Börsen nach der hier vertretenen Auffassung selbstverständlich freisteht, für ein bestimmtes Segment den Handel durch amtliche Makler als Handelsart zu wählen bzw. beizubehalten. Wenn mit der Zulassung unterschiedlicher Preisfeststellungssysteme und dem erwünschten Wettbewerb zwischen Börsen und börsenähnlichen Einrichtungen (4.a) das Konzept eines einheitlichen Börsenkurses für die verschiedenen Handelsobjekte hinfällig wird, bleibt die Frage, welche Regeln für die Börsenpreisfeststellung in den verschiedenen Handelssegmenten im einzelnen gelten sollen und welche Anforderungen an die Preisqualität zu stellen sind. Entscheidend ist dabei die Transparenz der Börsenpreisfeststellungsregeln, damit der Anleger, der sich für ein bestimmtes Marktsegment entscheidet, weiß, welche Regeln dort gelten und welches Maß an Preisqualität sie für ihn gewährleisten. Es sollte entsprechend ein allgemeines Transparenzgebot ins BörsG aufgenommen werden, das nicht nur die Börsenpreise und die ihnen zugrundeliegenden Umsätze, sondern auch die Preisbildungs- und -feststellungsregeln als solche erfasst. 3.4  Aufsicht In dem Maße, wie die Regelungsbreite und -tiefe des staatlich gesetzten Rechtes zugunsten einer weitreichenden Selbstregulierung verringert werden, ist im Gegenzug eine effiziente Aufsicht zu etablieren. Grundsätzliche Bedenken der Regulierungstheorie — zu wenig Anreize für wirksame Überwachung, zu große Nähe von Überwachem und Überwachten — sprechen insbesondere dann gegen eine ausschließliche Selbstüberwachung, wenn Kompetenz zur Selbstreguliemng und Aufsichtsbefugnisse zusammenfallen. Wegen der erheblichen Gefahr kollusiven Zusammenwirkens der Marktteilnehmer zu Lasten von Emittenten und vor allem Publikumsanlegem kommen der Anleger- und der Funktionenschutz ohne eine staatliche Letztaufsicht in Form einer Marktaufsicht zu kurz. Soweit eine staatliche Letztaufsicht gewährleistet ist, erscheint eine Indienststellung der historisch gewachsenen Handelsüberwachung durch die Börse selbst für die staatliche Regulierung und die mit ihr verfolgten Gesetzeszwecke ökonomisch sinnvoll. Dies bedeutet zunächst eine Handelsüberwachung vor Ort, also bei der jeweiligen Börse bzw. börsenähnlichen Einrichtung. Die hinter der autonomen Aufsicht durch die Handelsüberwachungssteilen stehende staatliche Letztaufsicht ist auf einer Ebene zentral zu organisieren. Dies legen nicht nur ökonomische Überlegungen nahe, sondern auch der rechtsvergleichende Befund in zahlreichen Ländern. Für Deutschland ist jedoch gegenwärtig (noch) eine erhebliche Zersplitterung der Aufsicht auf drei Ebenen festzustellen, die im wesentlichen nur als politischer Kompromiß zwischen Bund und Ländern zu erklären ist. Derzeit sind für die Börsen, deren Betreiber und die an der Börse Tätigen in Form der Branchen- und Marktaufsicht zunächst die verschiedene Bundesbehörden (BAKred, BAV und BAWe) zuständig, daneben treten — wenn auch im einzelnen mit unterschiedlichen Befugnissen — die Börsenaufsichtsbehörden der einzelnen Bundesländer und die autonome Handelsaufsicht in Form der den Börsen angegliederten HandelsÜberwachungsstellen. Die deutsche Aufsichtskumulation ist eine aus der Materie heraus nicht gerechtfertigte Überregulierung, die in der Praxis zu Recht kritisiert und zumal für ausländische Marktteilnehmer unverständlich ist. Da die Aufsicht auf der Ebene der Länder aufgrund von Größen- und Verbundvorteilen einer zentralen Marktüberwachung redundant ist, empfiehlt es sich, eine bundesweite Aufsicht für den gesamten Bereich der Wertpapierdienstleistungen einschließlich der Börsendienstleistungen für Wertpapierfirmen, börsenähnliche Einrichtungen und Börsen zu etablieren. Nachtrag: Nach Fertigstellung des vorstehenden Eintrages zeichnet sich im Zeitpunkt der Drucklegung im Sommer 2002 eine weitreichende Reform des Aufsichts- und Börsenrechts ab. Seit dem 1. Mai 2002 sind die auf der Ebene des Bundes zuvor auf die drei BAKred, BAV und BAWe aufgeteilten branchen- und marktaufsichtsrechtlichen Kompetenzen organisatorisch in der selbständigen Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAFin) zusammengeführt worden. Ferner hat die Bundesregierung am 14. November 2001 den Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland (Viertes Finanzmarkt- förderungsgesetz) verabschiedet, der zum Zeitpunkt der Drucklegung noch in den parlamentarischen Gremien diskutiert wird, mit dessen Inkrafttreten aber im Laufe des Jahres 2002 zu rechnen ist. Art. 1 des aus 23 Artikeln bestehenden Gesetzesentwurfes enthält eine umfassende Novellierung des Börsengesetzes, in die eine Vielzahl der obigen Reformvorschläge eingeflossen sind. Literatur CLAUSSEN, C.P. (2000), Noch einmal: Die Rechtsform deutscher Wertpapierbörsen, in: ZBB, 12. Jg., H. 1, S. 1-10. HELLWIG, H.-J. (1999), Möglichkeiten einer Börsenreform zur Stärkung des deutschen Kapitalmarktes, in: ZGR, 28. Jg., H. 6, S. 781-819. HOPT, K.J. / RUDOLPH, B. / BAUM, H. (Hrsg.), (1997), Börsenreform - Eine ökonomische, rechtsvergleichende und rechtspolitische Untersuchung, Stuttgart. HOPT, K.J. / RUDOLPH, B. / BAUM, H. (1997), Empfehlungen zur Börsenreform in Deutschland, in: WM, 51. Jg., H. 34, S. 1637-1640. HOPT, K.J. / BAUM, H. (1997), Börsenrechtsreform: Überlegungen aus vergleichender Perspektive, in: WM, 51. Jg., Sonderbeil. Nr. 4/1997 zu H. 34. KÜMPEL, S. (1997), Die öffentlichrechtliche Börsenorganisation im Lichte der Reformvorschläge, in: WM, 51. Jg., H. 41, S. 1917-1923. MUES, J. (1999), Die Börse als Unternehmen. Modell einer privatrechtlichen Börsenorganisation, Baden-Baden. SCHWARK, E. / GEIGER, F. (1998), Delisting, in: ZHR, 161. Jg., 1997, S. 739-773; Aicher, J. / Kalss, S. / Oppitz, M. (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börserechts, Wien. SEGNA, U. (1999), Die Rechtsform deutscher Wertpapierbörsen - Anmerkungen zur Reformdiskussion, in: ZBB, 11. Jg., H. 3, S. 144-152.





<< vorhergehender Fachbegriff
 
nächster Fachbegriff >>
Börsen Umsätze
 
Börsen-Order und Service-System computerunterstütztes Börsenhandels- und Entscheidungssystem, (BOSS- CUBE, BOSS)
Weitere Begriffe : Integriertes Börsenhandels- und Informationssystem | Verschmelzung von Aktiengesellschaften | Wertpapierberatung
 
Copyright © 2014 Banklexikon.info
Banklexikon | Finanzlexikon | Wirtschaftslexikon | Nutzungsbestimmungen | Datenschutzbestimmungen | Impressum
All rights reserved.